Fichenskandal

Staatsschutzfiche über den Schriftsteller Max Frisch (PDF, 13 Seiten)
Rückseite der Staatsschutzfiche der Nationalrätin Menga Danuser. Fotografie des Originals im Schweizerischen Bundesarchiv

Der sogenannte Fichenskandal (auch Fichenaffäre) ist ein Skandal der neueren Schweizer Geschichte in der Endphase des Kalten Krieges. Davon abgeleitet hat sich in der Schweiz das Wort „Fichenstaat“ als Umschreibung für einen „Schnüffelstaat“ gebildet. Etwa 900'000 Staatsschutz-Fichen wurden zwischen 1900 und 1990 angelegt, sie befinden sich heute im Bundesarchiv. Bei dem Skandal wurde aufgedeckt, dass Bundes- und Kantonalbehörde Informationen über Bürger im Geheimen sammelten.

Ablauf

Am 12. Januar 1989 trat Bundesrätin Elisabeth Kopp zurück, weil sie das Vertrauen ihrer Kollegen in der Landesregierung und in ihrer Partei, der FDP, verloren hatte. Die Justizministerin, die gegen Geldwäscherei und organisiertes Verbrechen kämpfte, war verheiratet mit dem umstrittenen Wirtschaftsanwalt Hans W. Kopp, der mit seinen intransparenten internationalen Geschäftsbeziehungen in Verdacht stand, heimlich genau das zu praktizieren, was seine Frau offiziell bekämpfte: „Musterland und Schurkenstaat teilten Tisch und Bett.“[1] Elisabeth Kopp hatte ihrem Ehemann Ende Oktober 1988 telefonisch empfohlen, aus dem Verwaltungsrat der libanesischen Shakarchi Trading AG zurückzutreten, gegen die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft liefen; sie hatte dieses Telefonat aber gegenüber dem Bundesrat und ihrer Partei verschwiegen.

Dieser „Fall Kopp“ erregte den Verdacht, dass das schweizerische Regierungssystem von der internationalen Finanzunterwelt unterwandert war. Deshalb beschloss die Bundesversammlung am 31. Januar 1989, eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) unter dem Vorsitz des damaligen Nationalrats und späteren Bundesrats Moritz Leuenberger einzusetzen. Die PUK sollte gemäss ihrem Auftrag die Amtsführung des EJPD und insbesondere der Bundesanwaltschaft untersuchen, „vor allem zur Klärung der im Zusammenhang mit der Amtsführung und dem Rücktritt der Departementsvorsteherin erhobenen Vorwürfe“, und das Vorgehen der Bundesbehörden und Bundesstellen bei der Bekämpfung der Geldwäscherei und des internationalen Drogenhandels abklären.[2] Sie kam aber nach wenig ergiebigen Untersuchungen bei einem Augenschein in der Bundesanwaltschaft, angeblich zufällig, in einen „irrsinnig grossen Raum“, der sich als „veritable Dunkelkammer der Nation“ erwies. Das Kapitel über die Fichen, die seit 1988 bekannt waren, aber von den Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) nicht untersucht werden konnten, erwies sich schliesslich als die einzige Sensation des PUK-Berichts.[1]

Rückseite einer Karteikarte eines fichierten Bürgers aufgrund des Besuchs von Ostblockstaaten. Eine Fotokopie der Fichenrückseite, wie sie kurz nach dem Skandal nach Auskunftsanfragen zugeschickt wurden.

In den späten 1980er Jahren war nach und nach ans Licht gekommen, dass die Bundesbehörden und auch die kantonalen Polizeibehörden seit 1900 rund 900'000 Fichen angelegt hatten.[3] Laut offiziellen Archiven waren mehr als 700'000 Personen und Organisationen erfasst. Die Beobachtungsaktivitäten erfassten zuerst ausländische Anarchisten, Schweizer Sozialisten und Gewerkschafter, unwillkommene politische Flüchtlinge und Ausländer, die ausgewiesen wurden. Einige Dossiers aus den 1930er- und 40er-Jahren befassen sich mit Nationalsozialisten und faschistischen Bewegungen. Mit dem Aufkommen des Antikommunismus wurden vor allem linksstehende Politiker der neuen Linke und Mitglieder von Gewerkschaften überwacht. Offizielles Ziel der Fichierung war es, das Land vor aus dem Ausland gesteuerten subversiven Aktivitäten zur Destabilisierung des Systems und nachfolgender Errichtung einer totalitären (kommunistischen) Diktatur zu schützen.

Als Vorgänger dieser staatlichen Überwachungstätigkeit hatte der Zürcher FDP-Politiker Ernst Cincera eine eigene Kartei angelegt, welche von privater Seite etwa im Zusammenhang mit Stellenbewerbungen konsultiert werden konnte.

Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 22. November 1989 Vorkommnisse im EJPD, sowie Ergänzungsbericht vom 29. Mai 1990

Die Aufdeckung des Fichenskandals mit dem Bericht im November 1989 bewegte die schweizerische Öffentlichkeit stark. Das Vertrauen vieler Bürger in den Staat war erschüttert. Zahlreiche Bürger reichten Gesuche ein, um die Herausgabe der persönlichen Fichen zu erreichen. Sie erhielten schliesslich Kopien ihrer Fichen, auf denen die Namen von Drittpersonen abgedeckt wurden, um die Identität der Informanten geheim zu halten. Am 3. März 1990 demonstrierten 30'000 Personen in Bern.[4]

Bekämpfung der Subversion war während des Kalten Krieges ein weitverbreitetes Schlagwort. Die PUK brachte zu Tage, wie weit dieser schwammige Begriff aufgefasst wurde. Wie aus den Unterlagen der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA) hervorging, empfanden eifrige Staatsschützer „Linke“, „Alternative“, „Grüne“, Friedensbewegte, Drittwelt-Aktivisten, Frauenbewegungen, Fremdarbeiterbetreuer, Anti-AKW-Bewegungen und religiöse Gruppierungen als potentiell gefährlich, denn sie könnten unterwandert, feindgesteuert oder manipuliert sein. Vor allem erwiesen sich die Ficheneinträge als „zum Teil äusserst unsystematisch und zufällig“ (PUK), weil den Beamten ein einheitliches Bedrohungsbild fehlte und keinerlei konkrete Weisungen über die Erfüllung dieses heiklen präventiven Staatsschutzauftrages bestanden.[5]

Im Zusammenhang mit den Nachforschungen zur Kopp- und Fichen-Affäre wurden auch Hinweise auf weitere Auffälligkeiten gefunden. So wurde ein Bericht über die Geheimorganisationen P-26 und P-27 erstellt, dessen Inhalt aber teilweise bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Unklarheiten bestehen nach wie vor auch bezüglich der Registrierung von „Zigeunern“. Dass ein entsprechendes Archiv angelegt wurde, wird heute nicht mehr bestritten. Da jedoch bisher sämtliche Recherchen von Historikern (z. B. im Rahmen der sog. Bergier-Kommission, der unabhängigen Expertenkommission, die die Geschichte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs aufbereitete) nur Einzelbelege in verstreuten Archivbeständen zutage fördern konnten und die Behörden sich zu diesem Thema ausschweigen, bleibt unklar, ob diese Registratur vernichtet wurde oder nach wie vor in Gebrauch ist.

Literatur

  • Schweiz. Parlamentarische Untersuchungskommission (EJPD): Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 22. November 1989: Vorkommnisse im EJPD. (PDF; 8,4 MB) Bern 1989.
  • Schweiz. Parlamentarische Untersuchungskommission (EJPD): Ergänzungsbericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) vom 29. Mai 1990: Vorkommnisse im EJPD. (PDF; 1,5 MB) Bern 1990.
  • Urs Paul Engeler: Grosser Bruder Schweiz. Wie aus wilden Demokraten überwachte Bürger wurden. Die Geschichte der politischen Polizei. Weltwoche-ABC-Verlag, Zürich 1990, ISBN 3-85504-128-8.
  • Jürg Frischknecht, Liliane Studer (Red.): Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug. Herausgegeben vom Komitee Schluss mit dem Schnüffelstaat. Limmat-Verlag, Zürich 1990, ISBN 3-85791-170-0.
  • Georg Sonderegger, Christian Dütschler: Ein PUK-Bericht erschüttert die Schweiz. Der Fichenskandal. In: Heinz Looser, Christian Kolbe, Roland Schaller, Sandra Brutschin, Gregor Sonderegger, Christian Dütschler, Simona Gambini (Hrsg.): Die Schweiz und ihre Skandale. Limmat-Verlag, Zürich 1995, ISBN 3-85791-236-7, 209–218.
  • Thomas Huonker, Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beitrag zur Forschung (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Bd. 23). Herausgegeben von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Chronos-Verlag, Zürich 2001, ISBN 3-0340-0623-3 (Unveränderte Ausgabe des publizierten Beihefts zum Flüchtlingsbericht von 1999).
  • Georg Kreis u. a.: Staatsschutz in der Schweiz. Die Entwicklung von 1935–1990. Eine multidisziplinäre Untersuchung im Auftrage des schweizerischen Bundesrates. Verlag Paul Haupt, Bern 1993.[6]
  • Georg Kreis: Staatsschutz. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  • Max Frisch: Ignoranz als Staatsschutz?, verfasst 1990, hrsg. von David Gugerli und Hannes Mangold, Suhrkamp, Berlin 2015, ISBN 978-3-518-42490-2; Auszüge unter dem Titel Die Akte F. – Max Frisch über seine Fiche und den Schweizer Staatsschutz. In: NZZ-Geschichte. (Magazin), Nr. 3, Oktober 2015, mit Kommentar von David Gugerli und Hannes Mangold.
  • Daniel de Roulet: Double. Ein Bericht (1998) über Peter Gasser, ein Opfer des Fichenskandals
  • Peter Gross beschreibt im Buch „Einmal Ku‘damm und zurück“, Berlin 2016 ISBN 978-3-7418-3926-9 wie er ein Opfer des Fichenskandals wurde.
  • Anton Kohler: Die Basler Fichenaffäre oder die verhinderte Diskussion über den Staatsschutz in der Demokratie. In: Basler Stadtbuch 1991, S. 67–71.

Weblinks

  • Roman Bucheli: Die seltsame Hinterlassenschaft des Staatsschutzes. Vor zwanzig Jahren erschütterte die Fichen-Affäre die Schweizer Öffentlichkeit – Streifzüge durch ein kurioses Archiv. In: Neue Zürcher Zeitung vom 13. Juli 2009.
  • Marc Tribelhorn: Der gefrässige Staat In: Neue Zürcher Zeitung vom 22. November 2014.
  • Raphael Zehnder: Fichenskandal: Als Eltern ihre Kinder bespitzelten. Interview mit Moritz Leuenberger. SRF, 21. November 2014.
  • Bestand: Archiv Schnüffelstaat Schweiz (ASS) in den Findmitteln des Schweizerischen Sozialarchivs
  • Peter Gross beschreibt auf seiner Website mit zwei Originaldokumenten wie er jahrelang bespitzelt wurde.
Audi
  • Fichenskandal – eine Tonreise – Radio SRF 4 News
  • Raphael Zehnder: Fichenskandal: Als Eltern ihre Kinder bespitzelten. Interview mit Moritz Leuenberger. SRF, 21. November 2014.
  • Fichenskandal: «Der damalige Bundesrat war zu blauäugig» In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 28. Februar 2015 (Audio)

Einzelnachweise

  1. a b Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2015. 
  2. Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK): Vorkommnisse im EJPD. 22. November 1989, abgerufen am 17. April 2023. 
  3. Staatsschutzfichen und -dossiers: Einsichtsverfahren und praktische Hinweise
  4. «Sie rückten unsere Tätigkeit in die Nähe der Stasi». In: Tagesanzeiger. 17. November 2014. Auf Tagesanzeiger.ch, abgerufen am 30. August 2022.
  5. Martin Matter: P-26 – Die Geheimarmee, die keine war. Wie Politik und Medien die Vorbereitung des Widerstandes skandalisierten. hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, Baden 2012, ISBN 978-3-03919-247-2, S. 263 f.
  6. Inhaltsverzeichnis