Philosophie des Zufalls

Philosophie des Zufalls (Original: „Filozofia przypadku. Literatura w świetle empirii“) von Stanisław Lem ist eine 1983 bzw. 1985 auf Deutsch erschienene Abhandlung zur Literaturtheorie in zwei Bänden. Das polnische Original erschien einbändig 1968 im Verlag Wydawnictwo Literacki. Mit dem Untertitel - Zu einer empirischen Theorie der Literatur - umreißt Lem den Anspruch des Werks, eine solche empirische Theorie der Literatur zu verfassen und den Zufall als einen zentralen Faktor herauszustellen.

Inhalt

Im Buch wird Literatur in ihrem Entstehen sowie in ihrer Rezeption als massiv vom Zufall geprägtes System beschrieben. Aus semiotischer und phänomenologischer Sicht betrachtet, stellt Lem bereits den Formulierungsprozess eines Textes als nichtdeterministischen Prozess dar: ein Werk entsteht, indem etwas aufgebaut wird, „...von dem man weder weiß, wie es in sich aufgebaut sein wird, noch eindeutig sagen kann, welche Ziele es verfolgen soll“.[1]

Lem interpretiert im folgenden literarische Texte als kybernetische Steuerungsprogramme, die darauf ausgelegt sind, beim Rezipienten gezielte Eindrücke entstehen zu lassen, die das Werk bzw. der Autor dadurch vermitteln will. Diese werden einerseits in Stilrichtungen wie dem Nouveau roman bereits abgelehnt bzw. dekonstruiert, andererseits können sie Lem zufolge angesichts der subjektiven Interpretationen der verwendeten Codes nicht zuverlässig funktionieren. Die hier auf der Ebene der einzelnen Rezipienten diagnostizierte Unzuverlässigkeit der Informationsübermittlung wiederholt sich eine Ebene höher. Für den Literaturbetrieb bzw. der Rezeption von Literatur auf gesellschaftlicher Ebene gilt dasselbe, da dort Werke immer auf eine bestimmte Umwelt stoßen müssen, um rezipiert zu werden. Das „stochastische Schicksal des Werkes“ kann auf höherer Ebene zufallsgeprägt sein (eine bestimmte Zeit ist ausreichend „reif“ für ein bestimmtes Werk) als auch durch zufällige Prozesse in literarischen Kreisen (ein zunächst wenig rezipiertes Werk stößt auf das positive Interesse von mehr und mehr Personen und gewinnt irgendwann an Reichweite und Anerkennung).

Die Rolle des Zufalls wird von Lem durchgehend als zentral betrachtet, sie ist reduziert bei stark „reglementierten“ Formen der Literatur (Lem zieht als Beispiel den Kriminalroman heran) und umso stärker, je freier die literarische Form ist, da diese wiederum eine umso freiere Interpretation erlaubt. Gegenpole für Lem sind hier die Physik und allgemeiner die Natur, welche entsprechende „Artikulationen“ der empirischen Bestandsfähigkeit unterzieht. Während die Naturgesetze klare Grenzen der „Artikulationsformen“ beispielsweise von biologischen Prozessen ziehen, ist „...der Ort, an denen sich die Bedeutungen ... von ihr distanzieren können, die Kultur. In ihr erlangen die Bedeutungen eine Autonomie, die jedoch an der Grenze der menschlichen, d.h. vom Menschen geschaffenen und verstandenen Welt endet.“[1]

Im zweiten Band (den Kapiteln 11-15 des Gesamtwerks) wird zunächst der Horizont um den der Kultur insgesamt erweitert, in dem die vom Zufall geprägte Entwicklung das Entstehen der jeweils relevanten kulturellen Werke bestimmt. Anschließend geht Lem zur Diskussion einzelner Werke und der Anwendung seiner Literaturtheorie über und behandelt beispielsweise Umberto Ecos Der Name der Rose wie auch den Science-Fiction-Roman Pallas von Edward de Capoulet-Junac. Auch eigene Werke Lems und ihre Rezeption werden teils intensiv besprochen.[2]

Bezüge im Werk Lems

Der Zufall spielt in mehreren Werken Lems eine große Rolle, vornehmlich in den vermeintlichen Kriminalromanen Der Schnupfen und Die Untersuchung. Die Rolle des Zufalls wird weiterhin im Katastrophenprinzip in Bezug auf Evolution und Menschheitsgeschichte dargestellt. Auch in der fiktiven Rezension „De Impossibilitate Vitae; De Impossibilitate Prognoscendi“ in Die vollkommene Leere wird die Unwahrscheinlichkeit der individuellen Existenz in den Kontext der stochastischen Grundgesamtheit aller Ereignisse gesetzt.

Ausgaben

  • Erstausgabe: Philosophie des Zufalls. Zu einer empirischen Theorie der Literatur. Band 1, übersetzt von Friedrich Griese. Insel Verlag Frankfurt am Main 1983, ISBN 978-3-458-14090-0
  • Philosophie des Zufalls. Zu einer empirischen Theorie der Literatur. Band 2, übersetzt von Friedrich Griese. Insel Verlag Frankfurt am Main 1985, ISBN 978-3-458-14285-0
  • Neuauflage: Philosophie des Zufalls. Zu einer empirischen Theorie der Literatur. Zwei Bände. Übersetzt von Friedrich Griese. Suhrkamp Verlag Frankfurt, 1989, ISBN 978-3-518-38203-5

Einzelnachweise

  1. a b Stanislaw Lem: Werke in Einzelausgaben. 1: Philosophie des Zufalls: zu einer empirischen Theorie der Literatur / Stanislaw Lem. Aus dem Poln. von Friedrich Griese. 1. Auflage. Band 1. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-458-14090-5. 
  2. Stanislaw Lem: Werke in Einzelausgaben. 2: Philosophie des Zufalls: zu einer empirischen Theorie der Literatur / Stanislaw Lem. Aus dem Poln. von Friedrich Griese. Insel, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-458-14285-1. 
Werke von Stanisław Lem

Science-Fiction-Werke: 1946 Człowiek z Marsa (dt. Der Mensch vom Mars, 1989) | 1951 Astronauci (dt. Der Planet des Todes / Die Astronauten, 1954) | 1955 Obłok Magellana (dt. Gast im Weltraum, 1956) | 1957 Dzienniki gwiazdowe (dt. Sterntagebücher, 1961) | 1959 Eden (dt. Eden, 1960) | 1961 Solaris (dt. Solaris, 1972) | 1961 Pamiętnik znaleziony w wannie (dt. Memoiren, gefunden in der Badewanne, 1974) | 1961 Powrót z gwiazd (dt. Transfer / Rückkehr von den Sternen, 1974) | 1964 Niezwyciężony (dt. Der Unbesiegbare, 1967) | 1964 Bajki robotów (dt. Robotermärchen, 1969) | 1965 Cyberiada (dt. Kyberiade, 1983) | 1968 Opowieści o pilocie Pirxie (dt. Pilot Pirx, 1978) | 1968 Głos Pana (dt. Die Stimme des Herrn, 1981) | 1969 Opowiadania (dt. Nacht und Schimmel, 1972) | 1971 Kongres futurologiczny (dt. Der futurologische Kongreß, 1974) | 1976 Maska (dt. Die Maske, 1978) | 1981 Golem XIV (dt. Also sprach Golem, 1984) | 1982 Wizja Lokalna (dt. Lokaltermin, 1985) | 1986 Pokój na ziemi (dt. Der Flop / Frieden auf Erden, 1986) | 1987 Fiasko (dt. Fiasko, 1986) |

Verschiedene: 1951 Jacht „Paradise” (Theaterstück, mit Roman Hussarski) | 1955 Szpital przemienienia (dt. Die Irrungen des Dr. Stefan T. / Das Hospital der Verklärung, 1959) | 1957 Dialogi (dt. Dialoge, 1980) | 1959 Śledztwo (dt. Die Untersuchung, 1975) | 1964 Summa technologiae (dt. Summa technologiae, 1976) | 1968 Filozofia przypadku (dt. Philosophie des Zufalls, 1983 / 1985) | 1968 Wysoki Zamek (dt. Das Hohe Schloß, 1974) | 1970 Fantastyka i futurologia (dt. Phantastik und Futurologie, 1977 / 1980) | 1971 Doskonała próżnia (dt. Die vollkommene Leere, 1973; Das absolute Vakuum, 1984) | 1973 Wielkość urojona, (dt. Imaginäre Größe, 1976) | 1976 Katar(dt. Der Schnupfen 1976) | 1978 Rozprawy i szkice, (dt.  aufgeteilt auf Sade und die Spieltheorie, 1986; Über außersinnliche Wahrnehmung, 1987; Science-fiction: ein hoffnungsloser Fall mit Ausnahmen, 1987) | 1980 Prowokacja, (dt. Provokation, 1981) | 1983 One Human Minute, (dt. Eine Minute der Menschheit, 1983) | 1983 Weapon Systems of the 21st Century or the Upside Down Evolution, (dt. Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, 1983) | 1983 The World as Holocaust, (dt. Das Katastrophenprinzip, 1983) | 1992 Die Vergangenheit der Zukunft | 1996 Tajemnica chińskiego pokoju, (dt. Die Technologiefalle, 2000) | 1999 Bomba megabitowa, (dt. Die Megabit-Bombe, 2003) | 2000 Okamgnienie, (dt. Riskante Konzepte, 2001) | 2003 DyLEMaty | 2006 Rasa drapieżców – Teksty ostatnie | 2009 Sknocony kryminał (posthum) |

Verfilmungen: 1960 Der schweigende Stern | 1963 Ikarie XB 1 | 1968 Solaris | 1972 Solaris | 1974 Die Untersuchung | 1978 Testflug zum Saturn | 2002 Solaris | 2007/2011 Ijon Tichy: Raumpilot

Normdaten (Werk): GND: 1088019978 (lobid, OGND, AKS) | VIAF: 84146462719627772403